Über 60 Jahre nach ihrer Entstehung soll die denkmalgeschützte Karl-Marx-Allee fertig gebaut werden. Das sozialistische Prestigeprojekt, das die beiden Berliner Stadtteile Friedrichshain und Mitte verbindet, gilt als einzigartiges städtebauliches Zeugnis der Nachkriegsmoderne. Ihr Erscheinungsbild ist geprägt von einer Kombination aus sozialistischer Moderne und sowjetischer Architektur aus der Zeit des Stalinismus. Das Kino International, das Café Moskau oder auch der Salon Babette zählen zu den prominentesten Gebäuden, die in den 60er-Jahren an der über 2,4 Kilometer langen und 100 Meter breiten Allee realisiert wurden. Da damals nur sechs der elf angedachten „Pavillons“ entstanden sind, soll das städtebauliche Ensemble nun unter Berücksichtigung seiner besonderen Qualität sowie sich verändernder Bedürfnisse weiterentwickelt werden. Bereits 2019 hatte es hierzu ein Werkstattverfahren gegeben, in dessen Rahmen drei Büros eine Vorplanung entwickelt hatten. Drei Jahre später wurde ein VgV-Verfahren initiiert, das die Arbeitsgemeinschaft LXSY Architekten und asp Architekten für die Gestaltung des sogenannten Sonderbaus für sich entscheiden konnte.
Das Gebäude soll unmittelbar neben dem Kino International und gegenüber des Café Moskaus realisiert werden und sich in Bezugnahme auf die sozialistische Moderne in diesen Kontext einfügen. Die Aufgabe: Die Gestaltung eines multifunktionalen Neubaus in planetaren Grenzen. Auf Ebene der Ästhetik bedeutet das, wichtige Gestaltungselemente der Bestandsgebäude aufzunehmen und so zu interpretieren, dass sie gegenwärtigen und zukünftigen Nutzungen gerecht werden. Auf Ebene der Konstruktion und Materialität bedeutet das eine kreislauffähige Bauweise, die auf die ökologisch, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit einzahlt.
Nutzerin des Gebäudes ist die Heinrich-Böll-Stiftung, deren Hauptsitz sich im Regierungsviertel befindet. Um einen niederschwelligen Zugang zu schaffen, soll sich das neue Gebäude durch einen offenen, transparenten Lab-Charakter auszeichnen, der die Menschen einlädt, sich mit politischen und gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen, die dort debattiert werden. Ein agiler, demokratischer Ort, der die Bestandsgebäude durch Ausstellungen und Veranstaltungen programmatisch um die Themen Kunst und Kultur erweitert, aber auch Raum bietet für neues Arbeiten.
Die städtebauliche Figur, die aus dem Werkstattverfahren hervorgegangen ist und als Grundlage dient, gliedert sich in zwei Gebäudeteile: Ein Hauptkörper und ein Appendix, der auch extern vermietet werden kann. Während der Appendix für kleinere Veranstaltungen, Workshops und Zusammenkünfte der Heinrich-Böll-Stipendiaten vorgesehen ist, sind im Hauptgebäude Räume für Veranstaltungen, das Böll-Lab sowie Arbeitswelten untergebracht. Im Erdgeschoss befindet sich die Welcome Area, in der auch die Kunst- und Kulturveranstaltungen stattfinden sollen. Neben einem Gastronomiebereich gibt es einen Veranstaltungsraum für 200 bis 300 Personen, das Böll-Lab sowie einen Schulungsraum. Ein hybrider Wissensort, der im Zeichen der Offenheit des Gebäudes steht und ein hohes Maß an Kooperation, Austausch und Flexibilität bietet. Im Obergeschoss ist eine weitgehend offene Arbeitswelt vorgesehen. Die programmatische Vielfalt drückt sich in Teamspaces, Konzentrations- oder Rückzugsorten, Kollaborationsräumen, Kommunikationsnischen, Workshopräumen sowie festen und flexiblen Arbeitsplätzen aus. Insgesamt umfasst der Pavillon eine Nutzfläche von circa 3000 Quadratmeter.
Beide Gebäudeteile sind zweigeschossig konzipiert und nehmen durch gestalterische Elemente immer wieder Bezug zu den Bestandsgebäuden der DDR-Moderne. So zum Beispiel eine große Galerie, die in beiden Gebäuden zwischen den Ebenen vermittelt und die Wirkung des offenen, kommunikativen Charakters unterstreicht. Ihrer Funktion als Herzstück wird vor allem im Hauptgebäude Ausdruck verliehen: In Form einer belebten Treppe soll sie zum Hinsetzen, Lesen oder Austauschen einladen und bei Veranstaltungen als Tribüne genutzt werden können.
Als modernes Pendant zu den massiven Bestandsbauten entlang der Karl-Marx-Allee, soll sich der Neubau durch eine zukunftsweisende Architektur auszeichnen, die bisherige Standards in Frage stellt – hinsichtlich Konstruktion, Materialität und Technik. Die PlanerInnen betrachten dabei den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes und verbinden verschiedene Ansätze, um möglichst einfach, ressourcenschonend und zirkulär zu bauen. Über den Low-Tech-Ansatz soll eine klimaangepasste Architektur entstehen und verbaute Technik möglichst reduziert werden. Mithilfe einer Gebäudesimulation wird eine klimaangepasste Gebäudekonfiguration ermöglicht. Der große Veranstaltungssaal etwa soll im Norden des Gebäudes angesiedelt werden, geschlossene Räume wiederum am Kern.
Im Sinne des Zirkulären Bauens sollen Materialien und Bauteile zum Einsatz kommen, die sich bereits im Kreislauf befinden. Neben der Wiederverwendung und dem Einsatz von Rezyklaten wird besonderer Wert auf lokale, nachwachsende Rohstoffe gelegt. Auf Verbundmaterialien wird ebenso verzichtet wie auf eine Holz-Beton-Verbund-Decke. Stattdessen entsteht eine klare Holzkonstruktion nach dem Prinzip des Design for Disassembly. Sowohl die Fassade als auch die Grundrisse sind modular aufgebaut. Das Rastersystem bietet viel Flexibilität und die Möglichkeit, das Gebäude später umnutzen und zurückbauen zu können. Das Dach wird als Retentionsdach mit intensivierter extensiver Begrünung zur Beförderung der Biodiversität ausgeführt und mit einer PV-Anlage versehen.
Die Karl-Marx-Allee wurde 2015 in Teilen als Fördergebiet im Bund-Länder-Förderprogramm „Lebendige Zentren und Quartiere“ ausgewiesen. Das Städtebauförderprogramm fokussiert sich seit einigen Jahren auf die Anpassung, Revitalisierung, Stärkung und den Erhalt von Quartieren und Zentren. In diesem Rahmen erfolgt nun auch die Entwicklung des Sonderbaus durch LXSY Architekten und asp Architekten. Eigentümerinnen des Grundstücks sind die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) sowie die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM), Nutzerin wird die Heinrich-Böll-Stiftung sein.
Der neue Pavillon an der Karl-Marx-Allee ist insofern ein Pilotprojekt, als er beispielhaft dafür steht, wie zirkuläres Bauen sowohl durch die planerische als auch durch eine Stiftung mit öffentlichem Zuwendungsgeber im Hintergrund befördert werden kann.